Zur Flüchtlingsfrage als klassenpolitischem Projektionsfeld

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von Paul Oehlke, Sozialwissenschaftler

Die Flüchtlingsfrage bestimmt seit Monaten die politische Agenda in der Bundesrepublik Deutschland in einer geradezu paranoiden Zuspitzung. Hierfür sorgen bereits die Medien, die das Thema am Kochen halten. Nicht nur der Boulevard, sondern auch Leitorgane wie etwa die FAZ und der Deutschlandfunk! So verblassten gegenüber sexuellen Übergriffen „nordafrikanischer“ junger Männer in der Kölner Silvesternacht die mehr als 1000 gewalttätigen Aktivitäten im letzten Jahr, darunter 136 Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, zu einer statistischen Größe.

 

Im Widerspruch zu dieser skandalösen medialen Schieflage erfahren Flüchtlinge vor Ort beides: aggressive Ablehnung, brutale Bedrohungen und rechtsextremistische Anschläge mehr im Osten Deutschlands; jedoch auch persönliche Unterstützung, bürgerschaftliches und ehrenamtliches Engagement, zahlreiche Vereinsaktivitäten etwa im Rheinland, über die beispielsweise der Kölner Stadtanzeiger immer wieder berichtet. Statt für Flüchtlinge entschieden Partei zu ergreifen, haben zahlreiche Meinungsträger ihre Besorgnisse über eine unkontrollierte Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen zum Ausdruck gebracht. Umso mehr können letztere unter Generalverdacht als potenzielle Terroristen gestellt werden, obwohl  sie gerade jenen in ihrer verwüsteten Heimat entronnen sind – kriegerischen Auseinandersetzungen, die durch Interventionen westlicher Länder im Zuge der angestrebten Regimewechsel, so im Irak, in Libyen und in Syrien, mit verursacht worden sind. Anhaltend hohe Opferzahlen, hunderttausende Tote, millionenfache Vertreibungen werden durch einzelne Terrorakte in westlichen Ländern medial überlagert – eine groteske Verschiebung von Maßverhältnissen.

 

Gesellschaftliche Aspekte der politischen Rechtsverschiebung

In der komplexen Gemengelage aus außen- und innenpolitischen Faktoren hat die politische Rechtsverschiebung in der Demontage von Merkels „willens-mäßigen Optimismus“ eine konkrete Gestalt gewonnen. Ihre Kollektivermächtigung „Wir schaffen das!“ war in der unmittelbaren Situation der Grenzöffnung alternativlos, erfuhr diese doch eine breite Resonanz in der erstaunlichen Aufnahmebereitschaft größerer Bevölkerungsgruppen, flankiert von rhetorischer Unterstützung aus Wirtschaft, Gesellschaft und in aller Welt. Die von überraschender Empathie getragene Grundstimmung stieß jedoch in ihrer Umsetzung auf unzureichende infrastrukturelle Voraussetzungen, die erst längerfristig zu schaffen sind: durch eine nachhaltige soziale Wohnraumförderung und regional ausgewogene Aufnahmemöglichkeiten, personell durchgehend aufzustockende Ämter von den Kommunen bis zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), wesentlich mehr Lehrpersonal für Sprach- und Integrationskurse. Auch hielt sich die Koalition im Bund zurück, umgehend integrierte Konzepte mit entsprechenden Finanzierungszusagen zu entwickeln, so sehr diese auch von der Opposition und Flüchtlingsorganisationen angemahnt wurden.

Solch eine wegweisende Initiative erfordert aber eine radikale Abkehr von dem jahrelangen Sparmantra mit Schuldenbremsen bis zur schwarzen Null mit den offenbaren Folgen: öffentlicher Investitionsstau, sozialer Leistungsabbau, verfallende Infrastrukturen, eingefrorene öffentliche Dienste und fortschreitende Privatisierung des Tafelsilbers. Kurzum: eine entschlossene Umkehr steht auf der Tagesordnung – parallel zu der früheren energiepolitischen Wende nunmehr eine gesellschaftspolitischer Wende in der öffentlichen Investitions-, Finanz- und Steuerpolitik. Befangen in der ideologischen Sackgasse von Schäubles schwäbischer Haushaltsdisziplin gerät der Merkelsche Widerhall von Obamas Wahlkampflosung „Yes we can“ jedoch in eine politische Zwickmühle: einmal durch real benachteiligte, vom sozialen Abstieg bedrohte und sich so fühlende Schichten und Milieus vor allem in den neuen Bundesländern, zum anderen durch rechtskonservative Politiker im Zusammenspiel mit nahestehenden Medien in den etablierten Parteien. So trägt der profilneurotische Druck führender CSU-Granden auf verschärfte Grenzkontrollen, Gesetzesverschärfungen und Obergrenzen  zum kometenhaften Aufstieg rechtsradikaler Stimmungslagen bei, die sich schließlich parteipolitisch in der AfD verfestigt haben.

 

Linke Solidarität gegen die sich verstärkende Flüchtlingsabwehr

Erneut gewinnt die bekannte Frage an Aktualität, wie sich die psychologische Projektion von sozial-kulturellen Problemlagen durchbrechen lässt. Statt die arbeitsmarkt- und steuerpolitisch geförderte Akkumulation des Reichtums bei kleinen Eliten auf Kosten unterer und mittlerer Klassen zu kritisieren, gelingt es den herrschenden Ideologen mit medialem Flankenschutz, die sich verschärfende soziale Kluft wieder einmal auf wehrlose Sündenböcke zu projizieren. Das waren vor etwa zwei Jahrzehnten sich angeblich in der Hängematte ausruhende Sozialhilfeempfänger, dann die Zukunftschancen der Jüngeren verprassende ältere Mitbürger, vor kurzem noch die „faulen“ Griechen und nunmehr in verstärktem Maße die in unsere Sozialsysteme Flüchtenden. So werden im rechtspopulistischen Fahrwasser nationalistische Zielsetzungen gepaart mit einer tendenziellen Entsorgung der braunen Vergangenheit reaktiviert. Widerstände hiergegen dürfen sich jedoch nicht in der Abwehr rechtsextremistischer Auswüchse erschöpfen, sondern müssen darüber hinaus ihre vielfältigen Brutstätten in der wie auch immer differenzierten „Mitte“ der Gesellschaft thematisieren. 

Das erfordert, gegenüber Einschränkungen demokratischer Einflussnahme unter dem Dogma globaler Wettbewerbszwänge politische Mitsprache und soziale Teilhabe auf allen Ebenen einzufordern – von den Kommunen aufwärts bis zu einer europäischen Neuordnung, aber auch in der Wahrnehmung ziviler Beteiligungsmöglichkeiten über Gewerkschaften, Sozialverbände und Kirchen hinaus in der gesellschaftlichen Medien-, Institutionen- und Vereinsvielfalt. Hierbei stehen nach wie vor stigmatisierte und majorisierte Linkskräfte vor der schwierigen Aufgabe, die gleicherweise erforderliche Kritik und Kooperation in der Gesellschaft so zu balancieren, dass von ihr überhaupt Bewusstseinsveränderungen und alternative Handlungsoptionen in Gang gesetzt werden können.

Gegenüber sich weiter ausbreitenden flüchtlingsfeindlichen Ressentiments, nationalistisch-aggressiver Stimmungsmache und immer wieder erneut aufgelegten Maßnahmen der Flüchtlingsabwehr hilft nur eine auf allen Ebenen präsente Aufklärungsarbeit und konkrete Solidarität im Zusammenwirken mit anderen Akteuren, wie es von Flüchtlingsorganisationen, Willkommensinitiativen und ökumenischen Hilfsprojekten sowie Sport- und Kulturvereinen schon gelebt wird.